Sigrun Lingel

Walter Wolfs Vorstellungen von demokratischer Bildungspolitik

Am 26. Februar 1947 erließ das Ministerium Wolf eine Rundverfügung zu Aufbau 12-jähriger Einheitsschulen in Thüringen. Diese war nur eines von vielen Zeichen für den eigenständigen Thüringer Weg, welchen die handelnden Akteure jener Tage in Anlehnung an Max Greil, Hermann Brill und August Frölich eingeschlagen hatten.

Welche Ziele verband der 1907 im heutigen Tagungsort Gotha geborene Walter Wolf mit diesem für das damalige Deutschland und heutige Thüringen noch immer einmaligen Versuch, Kindern eine 12-jährige einheitliche Schulbildung zu ermöglichen?

Walter Wolf war Arbeiterkind. Die Greilsche Schulreform der Jahre 1922/23 - in Thüringen regierte eine von SPD und USPD geführte, durch die KPD tolerierte Landesregierung - eröffnete Kindern wie Walter Wolf den Weg über die Aufbauschule zum Abitur, und damit zu einem Studium. Sein Lehrerstudium an der Universität Jena brachte ihn in Berührung mit den Gedanken Petersen, welcher von Max Greil als Professor für Pädagogik nach Jena berufen worden war. Die nach Jena benannte, von Petersen entwickelte Gemeinschaftsschule ging unter anderem von einem 8-jährigen Schulbesuch mit Kern- und Kursunterricht aus.

Wolf arbeitete ab 1931 an verschiedenen Ostthüringer Schulen, so unter anderem im heutigen Altenburger Land sowie in Schleiz. Hier entwickelte sich seine kritische Sicht auf den vermittelten Lernstoff. Arbeiterkindern, die das Werk, in welchen ihre Eltern tätig waren, tagtäglich vor Augen hatten, wurde gerade nicht durch die Schule vermittelt, was auch sie später für ihre berufliche Tätigkeit an Fähig- und Fertigkeiten brauchten.

Seiner Entfernung aus dem Schuldienst durch die Nazis im Jahr 1938 beendete nicht nur seine Lehrertätigkeit, ihm stand, wie so vielen anderen, die Erfahrung Buchenwald bevor.

In Buchenwald war Wolf unter anderem an der Erarbeitung "Schulpolitische Sofortmaßnahmen" beteiligt, welche - durch Hermann Brill als Leiter des Landesamt für Volksbildung berufen - Richtschnur seines Handelns wurden. Zu diesen zählten:

Wenn das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule vom 2. Juni 1946 unter anderem den Aufbau 8-jähriger Grundschulen vorsah, konnte Wolf in seinem Rechenschaftsbericht "Über das 1. Schuljahr nach dem Zusammenbruch" feststellen, dass dies in Thüringen an vielen Orten bereits Realität war.

Offensichtlich war dies Wolf jedoch noch nicht genug, welches oben genannte Rundverfügung vom Februar 1947 zeigt.

Wolf wollte eine 12-jährige Einheitsschule, in welcher unter einem Dach auf den Ergebnissen einer 8-jährigen Grundschule eine 4-jährige Oberstufe aufbaut. Diese sollte organisch mit der Grundschule verschmelzen. Für die Grundschule waren ab Klasse 7 eine Unterteilung in Kern- und Kursunterricht vorgesehen, wobei die Grundlage des Kursunterrichts die Kurse der ehemaligen neusprachlichen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und altsprachlichen Gymnasien bildeten. Kern- und Kursunterricht bedeutet, dass Kinder einen Teil des Lernstoffes im Kernunterricht sich gemeinsam erarbeiten. Der Kursunterricht ermöglicht ihnen die Entwicklung nach ihren besonderen Fähig- und Fertigkeiten, ermöglicht eine Differenzierung nach Interessen und Begabungen.

Die Verschmelzung von Grundschule mit Oberstufe sollte es Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen, Heranwachsende von der Grundschule bis zum Abitur zu begleiten, hier insbesondere im Kursunterricht. Damit deutet sich an, dass Wolf das Ziel verfolgte, eine Unterscheidung in Volksschullehrer und Studienrat über die Jahre abzuschaffen. Dem diente auch die angestrebte einheitliche universitäre Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, wie sie 1946 an der Universität Jena unter der Leitung von Petersen begann. Dass Wolf dem Standesdünkel unter Lehrern den Kampf angesagt hatte, zeigt sich unter anderem in der vorgeschriebenen Leitung der neuen 12-jährigen Einheitsschule. So sollte diese jeweils aus einem Studienrat sowie einem Volksschullehrer bestehen.

Grundschule und Oberstufe unter einem Dach zu verbinden, sollte den Kindern von Beginn ihres Schulbesuches an zeigen, was an Lernleistungen zu erreichen möglich ist. Ihm war bewusst, dass zwischen Begabung und erworbener Befähigung zu unterscheiden ist. Wenn ich heutige bildungspolitische Diskussionen der Linken nicht nur in Thüringen verfolge, bin ich mir nicht sicher, ob dieser Unterschied den Diskutantinnen immer bewusst ist. Immer wieder ging deshalb Wolfs Appell an alle, die begabtesten Kinder eines jeden Jahrganges zu erkennen und gezielt zu fördern.

Lernen unter einem Dach sollte aber auch das Verantwortungsbewusstsein der älteren Schülerinnen und Schüler gegenüber den jüngeren entwickeln. Hier finden sich deutlich die Bezüge zur Gemeinschaftsschule, wie sie in den reformpädagogischen Ansätzen der 20iger Jahre zu finden sind und welche heute in Schulversuchen durch die rot-rote Landesregierung in Berlin neu entwickelt werden soll.

Mit der Entwicklung der 12-jährigen Einheitsschule sollte zugleich die Entwicklung neuer Lehrpläne einhergehen. "Der demokratische Inhalt unseres Bildungsgutes, die neuen Stoffpläne, das neue Denken müssen die wissenschaftliche Zuverlässigkeit des vermittelten Bildungsgutes gewährleisten." schreibt Wolf in einem Beitrag für die Zeitschrift "die neue schule" im Jahr 1947.

Wolf misstraute allen Formalien. "Von der formalen Seite aber auf den Inhalt zu schließen, von einer geschlossenen Bankanordnung auf einen rückschrittlichen, von einem aufgelockerten Klassenbild aber auf einen fortschrittlichen Bildungsinhalt zu schließen, beweist nur eine absolute Überschätzung des Formalen, beweist den Pragmatismus einer pädagogischen Auffassung." sagte er 1947. Wohl auch deshalb war er gerade nicht für eine flächendeckende, von oben gesteuerte Einführung der 12-jährigen Einheitsschule. Viel mehr sollten diese sich von unten überall dort entwickeln, wo der Wunsch der Beteiligten und die Voraussetzungen für den Aufbau dieser gegeben war. Deswegen unterschied er neben den bestehenden Grund- und Ober- sowie Zentralschulen in 12-jährige Einheitsschulen sowie solche, welche sich im Aufbau befinden.

Sein Vertrauen in die Fähigkeiten der Beteiligten an Schule vor Ort zeigt auch, dass er notwendige Schlussfolgerungen aus dem Scheitern der Greilschen Schulreform gezogen hatte. Dieser war es gerade nicht gelungen, die Eltern in die Umsetzung der Schulreform einzubinden, die Schulreform zu einem Anliegen der Elternschaft zu machen.

Die weitere Umsetzung seiner Pläne der Errichtung von 12-jährigen Einheitsschulen fand mit seiner Ablösung als Minister im Frühjahr 1947 ein abruptes Ende. Die neue Ministerin für Volksbildung - Marie Torhorst - brachte die Thüringer Volksbildung "auf Linie", sprich auf die Linie der Sowjetpädagogik. Nicht nur die Jena-Plan-Schule wurde als ein Hort der Reaktion geschlossen, selbst die universitäre Ausbildung aller Lehrerinnen und Lehrer, eine Uraltforderung der demokratischen Lehrerschaft, wurde abgeschafft. Es folgten 40 Jahre Einheitsschule nach sowjetischen Vorbild und inzwischen 16 Jahre eines gegliederten Schulsystems, ein weiterer Rückschritt, wodurch Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen ganz offensichtlich erneut benachteiligt werden.

Auf ihrem Landesparteitag vor 14 Tagen in Schmalkalden legte Die Linke.PDS in Thüringen einen Schulgesetzentwurf vor. In diesem finden wir noch immer das Festhalten an Hauptschule und Religionsunterricht. Auch eine Schülerselbstverwaltung ist nicht vorgesehen. Ein bildungspolitisches Konzept im Sinne der Greilschen Schulreform und der "Schulpolitische Sofortmaßnahmen" aus dem Konzentrationslager Buchenwald sucht man auch auf der Linken vergeblich. Was die neuen Inhalte sein sollen, welche in unseren Thüringer Schulen nach Ansicht der PDS zu vermitteln sind, sagt die Partei nicht. Statt dessen wird auf Formalien bestanden, wird eine Änderung der Schule von oben, nach dem Willen einer Partei, favorisiert. Rechtsstaatliche Prinzipien, so unter anderem die Unschuldsvermutung, werden abgeschafft. So muss im Falle eines Schulverweises nach Willen der Linken ein Kind künftig die Schule verlassen. Was hilft es dann, wenn das Gericht feststellt, dass der Verweis nicht rechtens war, vom Schulbesuch ist das Kind nach Willen der Linkspartei in Thüringen erst einmal auszuschließen. Nach diesem sollen in Thüringen Schuleinzugsbereiche aufgehoben werden, können Schulen die Aufnahme eine Kindes verweigern. Das für solche und andere Fälle notwendige Korrekturgremium, z.B. einen kommunalen Schulvorstand, wie wir ihn bei Greil und Wolf finden, sucht man im Gesetzentwurf vergebens.

Hier wird die Tragik der vergangenen 40 Jahre Realsozialismus offensichtlich: Die Lehren aus ihrer Geschichte auf bildungspolitischen Gebiet zu ziehen und an die große Tradition von Greil und Wolf anzuknüpfen, ist der Linken in Thüringen mit diesem Gesetzentwurf nicht gelungen.

© Sigrun Lingel | 2006