Sigrun Lingel

Agbal zu Hause bei uns

Das Karawane-Festival in Jena. Sein Motto: Vereint gegen koloniales Unrecht und in Erinnerung an die Toten der Festung Europa

4. Juni 2010, es ist Freitag, 16.00 Uhr. Noch folge ich der Diskussion "Alternativen im/zum Kapitalismus", in der Katja Kipping die Positionen der LINKEN gut vertritt, da meldet sich mein Handy, und mir wird schlagartig bewusst, dass wir kein ruhiges Wochenende vor uns haben. Vom Uniturm zum Pulverturm sind es nur 27 Etagen und wenige Schritte. Schon kommt Susi von der "sleeping-Gruppe" auf mich zu. Vorsichtig sagt sie, dass wir zwei Mütter mit drei Kindern bei uns aufnehmen müssen - vorsichtig, weil ich Platz für zwei Erwachsene und ein Kind angemeldet hatte. Aber das erschüttert mich nicht wirklich. Bin es ja gewöhnt: In Afrika läuft eh alles anders. Also, mit unseren afrikanischen Gästen quer durchs Zentrum zu uns nach Hause. Dort schnell das Zimmer eingeräumt und zwischendurch erzählt, dass ich als Kind in Ostafrika, genauer in Tansania, lebte, dass mein Vati dort als DDR-Lehrer beim Aufbau des Bildungswesens half. Ich zeige Ihnen Fotos von Sansibar und erkläre, dass die Schnitzerei Rafael darstellt, der unser Hausmeister in Daressalam war.

Die Mamas sind noch schüchtern, die beiden älteren Kinder (zwischen zwei und zweieinhalb Jahre) dagegen nicht. Alles wird ausprobiert, und ich muss den Mamas klar machen, dass dies kein Problem für mich ist. Sie kommen aus Ghana und leben nun in Nürnberg. Vorsichtig fragen sie, ob wir ein Problem damit haben, wenn sie erst nach dem Ende des Karawane-Tags zurück zur Wohnung kommen. Haben wir nicht.

Dafür haben wir ein schwerwiegendes Problem gleich am nächsten Tag, befindet sich doch das Gepäck unserer Gäste noch in dem Auto, mit dem sie nach Jena gekommen waren. Also telefonieren und klären, wie das Gepäck zu uns gebracht wird. Vorsichtshalber hole ich Windeln aus der Kaufhalle, damit die Kinder trocken gelegt werden können.

Mit dem Gepäck treffen drei weitere Personen ein – durchgefroren, so warm sind die Nächte Anfang Juni noch nicht. Den Tisch für die "Neuen" gedeckt, Kaffee gekocht und erklärt, dass wir dann zur Arbeit müssen. Wir schließen die Tür hinter uns und vertrauen darauf, dass unsere Gäste alleine zurechtkommen. Erst am Nachmittag, kurz vor Beginn der Maskerade, auf der die Karanwaneteilnehmenden der vielen Toten der Festung Europa gedenken, sehen wir uns erneut.

Die politischen Forderungen der Karawane finden in Jena seit vielen Jahren Unterstützung durch DIE LINKE. So wurde auf Antrag der damaligen PDS im Jenaer Stadtrat beschlossen, Asylbewerbern künftig Geld statt Gutscheinen zu geben. Die Umsetzung dieses Beschlusses wurde durch das Landesverwaltungsamt gecanceltet. Trotzdem gibt es inzwischen individuelle Lösungen für Flüchtlinge, so dass es zu - wenn auch nicht ausreichenden - Erleichterungen für die Flüchtlinge beim Einkauf gekommen ist. Familien von Flüchtlingen werden in Jena dezentral in Wohnungen untergebracht. Das ist eine Verbesserung, obwohl allen Beteiligten bewusst ist, dass die gesetzlichen Grundlagen in diesem Land weiterhin eine Unterbringung von Familien in Lagern gestatten. Im Jahr 2006 wurde der Jenaer Preis für Zivilcourage an die Aktivisten von "The VOICE Refugee Forum", Bensaid Lahouari aus Algerien und Ahmed Sameer aus Palästina, für ihren zivilen Ungehorsam gegen das Residenzpflichtgesetz für Asylbewerber verliehen. Dies zeigt, dass die Stadt sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Rechte von Flüchtlingen in Deutschland stark macht.

So gesehen war der Ort des Karawane-Festivals gut gewählt. Die Jenaer Vorbereitungsgruppe erhielt vielfältige Unterstützung von Vereinen und Projekten in Jena. Der Studierendenrat unterstützte das Festival ebenso wie die Hintertorperspektive, ein Projekt im Fan-Projekt des FC Carl-Zeiss, welches sich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit engagiert und unter anderem Fußballturniere mit Asylbewerbern organisiert. Das Theaterhaus öffnete für die Karawane und bietet am Sonntagvormittag den Vorplatz für das Kinderfest, Ausstellungen und Galerien stellten ihre Räume zur Verfügung, um mit Mitteln der Kunst auf die Probleme von Flüchtlingen und Asylbewerbern aufmerksam zu machen.

Nicht denkbar wäre das Festival ohne die vielen, vor allem jungen Unterstützer/innen, welche die Veranstaltungsplätze vorbereiten und nach dem Festival auch wieder säubern, die sich um die Unterbringung und Verpflegung kümmern und jederzeit als Helfende zur Verfügung stehen. Bei mehr als 2000 Gästen aus allen Teilen Deutschlands und aus anderen europäischen Ländern ist dies eine Leistung, die Respekt verdient.

Und unsere afrikanischen Gäste? Sie sind mittendrin im bunten Treiben, auf Internetseiten entdeckte ich Fotos mit ihnen. Am Sonntag früh sind "unsere" afrikanischen Mamas ganz entspannt. Agbal hat inzwischen den Schreibtischstuhl für sich entdeckt, mit dem er wunderbar Karussell fahren kann. Er zählt mit mir in Englisch von eins bis zehn und in der deutschen Sprache von eins bis neun, auch wenn für ihn nach der Acht erst einmal ein "Bravo" kommt. Ich bin ganz sicher, dass er hier in diesem Land seinen Weg gehen wird, wenn man ihn und seine Familie nur lässt. Dafür sich politisch einzusetzen, ist eine lohnende Aufgabe, gerade auch für DIE LINKE.

Mario, mein Lebenspartner, gesteht mir am Abend, dass das Wochenende für ihn eine völlig neue Erfahrung ist. Das überraschte mich erst einmal, hat er sich doch intensiv unter anderem mit der panafrikanischen Idee und dem afrikanischen Sozialismus beschäftigt, kennt vieles aus meinen und den Erzählungen meiner Familie. Es scheint aber doch ein Unterschied zu sein, ob man Menschen aus Afrika und anderen Kontineten aktiv begegnet oder nur über sie liest.

© Sigrun Lingel | 2010
Erschienen im DISPUT